- straight
(direkte) fotografie. oder :
- keine
fotografie ohne realität
Was
hat die Realität mit der Fotografie zu tun? Nichts, wenn man die Auffas-
- sung
vertritt, Fotografie ist alles, was durch ein technisches Verfahren auf
- Fotopapier
festgehalten wird. Soweit, so gut. Farbe, die man manuell auf einen
- festen
Untergrund aufträgt, ist Malerei. Das ist banal, zeigt aber, wie unklar
es
- ist,
was man heute unter dem »Medium Fotografie« versteht. Fragt
man die
- Puristen,
die Dokumentarfotografen - die Berliner André
Kirchner oder
- Ulrich
Wüst zum Beispiel -, so ist für sie die Realität
alles und der Rest nur
- Feuilleton.
Aber auch die Fotografen, die die Wirklichkeit inszenieren, wie
- Jeff
Wall, reklamiert natürlich auch für sich die Realität
als Inspirationsquelle.
- Das
Merkmal »Realität« reicht also nicht aus, um die »direkte
Fotografie« ein-
- zukreisen.
Es muss daher noch eine zweite Komponente hinzukommen, die
- Kamera.
Aber auch Jeff Walls benutzt eine Kamera. Vielleicht lässt sich die
- »direkte
Fotografie« so eingrenzen: Das fotografische Bild entsteht durch
die
- Bedienung
eines technischen Apparats, bei dem ein Ausschnitt aus der Re-
- alität
als Vorlage genutzt wird. Diese recht verschwommene Definition von
- »direkter
(straight) Fotografie« prägt bis heute die Vorstellung, was
eigentlich
- klassische
Fotografie ist. Die Bestandteile der direkten Fotografie, die »Realität«
- und
der »Apparat« widersprachen dem traditionellen Kunstverständnis,
nach-
- dem
Kunst durch handwerkliches Bemühen des Künstlers geschaffen wird
- und
die Realität banal und ordinär ist. Kunstwerke hatten Höheres,
Erhabenes
- widerzuspiegeln
und sollten auf Inspiration und Eingebung zurückzugehen.
- Dadurch
wird deutlich, wie die »direkte Fotografie« bei ihrer Erfindung
im 19.
- Jahrhundert
gegen die Erwartungen des damaligen Kunstpublikums verstieß
- und
daher nur als genialer Ersatz für Zeichnungen »nach der Natur«
begriffen
- wurde.
Trotz
des großen Durchbruchs der »direkten Fotografie« als
künstlerisches
- Medium
in den 90er Jahren des vorigen Jahrhunderts hat sich an diesem Miss-
- trauen
gegenüber dieser Art der Fotografie wenig geändert. Dies lässt
sich
- sehr
gut an den retardierenden Momenten aufzeigen, die der »direkten Foto-
- grafie«
ablehnend gegenüberstehen. Es sind die Tendenzen, die die Spuren
- der
Realität verwischen und sich wieder einen handwerklichen Künstler
wün-
- schen.
Da die Fotografie selbst nicht mehr abgelehnt werden kann, besteht
- das
Bedürfnis, die eigentlich »banale« Fotografie zu veredeln
und zu »Kunst«
- zu
verdichten: - Unter dem Label »digital« wird der Stempel von
Fotoshop
- bemüht
(siehe Andreas
Gursky), Rendering-Programme (siehe die Wander-
- ausstellung
»natürlich
künstlich«) genutzt, in der Meinung, hier würde
Neues
- entstehen.
Im Ergebnis allerdings unterscheidet sich diese Haltung kaum von
- den
Piktoralisten der Jahrhundertwende, die Negative mit Pinsel und Spachtel
- bearbeiteten
(siehe Galerie
Stockeregg). - Oder die Fotografie, die als Re-
- produktionsmedium
für Objekte der Bildhauerei, Installation oder Performance
- genutzt
wird, um sie dann als Fotografie auszugeben (siehe zum Beispiel
- Thomas
Demand). - Die »Fotokunst«, die ein Bild auf Fotopapier
für Foto-
- grafie
hält und den Verlust der Realität als »postmodern«
feiert (siehe die
- Ausstellungen
»Frost« von Hans Danuser und »Zustände« von
Dunja Evers
- im
Fotomuseum
Winterthur).
Eigentlich
sollten diese mit großem Applaus bedachten Tendenzen nachdenk-
- lich
stimmen. Handelt es sich doch bei der »direkten Fotografie«
um ein Vor-
- gehen,
in der die künstlerische Produktion vergeistigt ist, - ja abstrakt
-. Die
- Reduzierung
der Tätigkeit des Künstlers auf die Wahl des Ortes, der Zeit,
der
- Kamerabedienung
und des Bildausdrucks im Printer oder Dunkelkammer, spie-
- gelt
viel genauer das digitale Zeitalter wieder, dass die handwerkliche Arbeit
- durch
die Bedienung eines Computers ersetzt hat. Aber vielleicht muss dieses
- Prinzip
der »direkten Fotografie« noch deutlicher eingegrenzt werden
und
- zwar
von ihrem Inhalt her.
In
den kurzen Jahrzehnten ihrer Existenz hat die »direkte Fotografie«
einen
- langen
Weg der Emanzipation von der Malerei und Grafik zurückgelegt. Eck-
- punkte
sind die Neue Sachlichkeit, die Fotografie um und mit Walker Evans,
- die
amerikanische Dokumentarfotografie der 70er Jahre, deren Aufarbeitung
- und
Transformierung durch die konzeptuelle Dokumentarfotografie von Bernd
- und
Hilla Becher und von Michael Schmidt. Diese »direkte« Kunst
reflektiert
- im
besten Fall unmittelbar die gesellschaftlichen Gegebenheiten und geht da-
- von
aus, dass die größte Inspirationsquelle der Kunst, die Realität
ist. Durch
- die
Benutzung der Kamera muss der Künstler vor Ort sein, - draußen,
nicht
- im
Schutz eines Ateliers oder eines Computerraums. Diese Konfrontation mit
- der
Realität verändert die Fotos und den Fotografen. Es ist Zufall
möglich,
- Scheitern
und Erfolg liegen eng beieinander und der Fotograf lernt weiter,
- wie
die Realität aussieht. Für den Fotografen macht dieser Kampf
zwischen
- Zufall
und seinen Fähigkeiten den Reiz dieses Genres aus. Dies ist auch ganz
- im
Sinne des Betrachters, der Zugang bekommt zu menschlichen Bereichen,
- die
ihm verschlossen sind, oder es werden ihm bekannte Dinge unter einem
- neuen
Blickwinkel gezeigt. Die »direkte Fotografie« ist damit nicht
nur eine
- mediale
Variante der Fotografie, sondern auch ein inhaltliches Programm,
- dessen
Bogen sich spannt von einer reinen »Topografischen« Fotografie
- bis
hin zu Halluzinationen über die Realität in der Form einer »Subjektiven«
- Fotografie.
©
Thomas Leuner, März 2003
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